GELIEBTER FEIND
Er galt als Verkörperung des Bösen. Wo immer er in Europa erwischt wurde, haben die
Menschen ihn getötet. Die schlauesten und mißtrauischsten Wölfe habe überlebt.
Jetzt kehren einige zurück - auch nach Deutschland
Der Wolf kann kommen
Der Wolf kommt und kommt und kommt. Aber bleiben will er nicht - zumindest
nicht in Deutschland. Dabei war ihm der Boden bereitet worden wie wohl nirgendwo sonst. Als
Anfang der 90er Jahre immer häufiger Wölfe in Brandenburg gesichtet wurden, prüfte die Wildbiologische
Gesellschaft München, ob der Wolf im Grenzland zu Polen eine dauerhafte Lebenschance hätte.
Dem war so. Daraufhin arbeitete sie Programme aus, die den Bewohnern die Angst vorm bösen
Wolf nehmen wollte. Was zu machen ist, wenn Wölfe über Schafherden der Bauern herfallen oder
Jägern die Rehe vor der Büchse wegschnappen.
Doch all die schönen Programme verschwanden in der Schublade. Herr Wolf überlegte es sich nämlich
anders. Zwar brachte eine Wölfin 1991 in Brandenburg erstmals seit rund 150 Jahren in Deutschland
Junge zur Welt. Aber drei Welpen machen noch kein Rudel. Ansonsten blieb es bis heute bei einzelnen
Besuchen in der Schorfheide und der Märkischen Schweiz (nordöstlich bzw. östlich von Berlin).
Dabei hatten die Wildbiologen errechnet, daß in den ausgedehnten und enorm wildreichen Wäldern
locker Platz für mindestens 100 bis 200 Wölfe ist. Die haben dort sogar eine sechs- bis achtmal
höhere Dichte an Beutetieren als im klassischen Wolfsgebiet des Yukons im Norden Kanadas. Jährlich
schießen die Jäger allein in Brandenburg Rehe, Hirsche und Wildschweine in einer solchen Menge
daß das Fleisch 2000 Wölfe das ganze Jahr über ernähren könnte.
Doch mancherorts ist schon ein Wolf einer zuviel! Zum Beispiel im Westschweizer Kanton Wallis. Als dort
1995 und 1996 ein einwanderndes Tier aus Italien gesichtet wurde, hefteten sich ungezählte Jäger auf seine
Fährte und mit ihnen - kein Witz - die Anti-Terror-Einheit der Kantonspolizei. Vergebens. Sie kamen nicht
einmal in Schußweite. Europas letzte Wölfe sind so menschenscheu wie wohl keine anderen ihrer Art auf der Erde. 1000
Jahre intensive Jagd haben nur die vorsichtigsten unter ihnen überlebt. Man kann auch sagen: die ängstlichsten,
die immer einen weiten Bogen um den Menschen machten.
Demo gegen Bestien
Taucht dennoch eines dieser scheuen Exemplare auf, ist regelmäßig der Teufel los. 1992 wagten
sich die ersten Wölfe in den Nationalpark Mercantour in den französischen Seealpen vor - ebenfalls
aus den italienischen Abbruzzen kommend, rund 100 Kilometer östlich von Rom.
Inzwischen haben sie sich bei den Franzosen festgesetzt. Werner d'Oleire-Ottmanns vom Berchtesgardener
Nationalpark schätzt ihre Zahl auf heute 20 Tiere. Den Bauern der Region geht das zu weit.
Im Herbst vergangenen Jahres demonstrierten 2000 Schafzüchter in der südfranzösischen Millionenstadt
Lyon gegen die "Bestien", obwohl der französische Staat garantiert, alle durch Wölfe entstehenden
Schäden zu ersetzen. Allerdings sollen die Wölfe dort schon Hunderte Schafe gerissen haben.
Die tiefsitzende Angst und der ausgeprägte Haß gegenüber dem "bösen Wolf" sind bei genauem Hinsehen ziemlich verwunderlich.
Schließlich hat der Mensch ihn doch vor mindestens 15.000 Jahren vermutlich als Welpen in sein Zelt
geholt, wo er zum Spielgefährten der Kinder, dann zum Wächter oder Jagdgehilfen wurde - über vieles davon
läßt sich heute nur spekulieren. Neue Gen-Analysen an Hunden kommen sogar zum Schluß, daß sich die Wege
von Wolf und Hund bereits vor 135.000 Jahren trennten, was einige Wissenschaftler allerdings bezweifeln.
Wie auch immer, dem Wolf hat die Ähnlichkeit zum gehätschelten "besten Freund des Menschen" kein besseres
Image eingebracht. Zumindest bei uns Europäern.
Indianer beispielsweise nannten den Wolf ehrfurchtsvoll "Bruder". Der schnappte sich zwar hin und wieder die gleiche Beute
wie der Mensch, aber davon gab es genügend für beide.
Manchmal haben Indianer Wölfe wegen ihres Fells und in Notzeiten sicherlich auch wegen des Fleisches geschossen.
Aber sonst war ihr Verhältnis zum Wolf ähnlich entspannt, wie bei ihren nördlichen Nachbarn, den Inuit.
Jägervölker betrachten Wölfe nicht als Konkurrenz, sondern ehren sie.
Aus diesem Grund führte der legendäre Mongolen-Führer Dschingis-Kahn seine Abstammung stolz auf einen Wolf zurück.
Blutvergießen und Verderben
Mit der Ehrfurcht und Bewunderung war es schlagartig vorbei, als der Mensch sich nicht mehr mit dem begnügte
was er im Wald und in der Steppe finden oder jagen konnte, sondern sich als Bauer seßhaft machte.
Und folgerichtig tauchten die ersten Überlieferungen des bösen Wolfs genau dort auf, wo die ersten Nutztiere gezüchtet
wurden - im Vorderen Orient.
Schon im Alten Testament wird dem Wolf der Stempel des Satans aufgedrückt, der für Zerstörungswut
und Habgier steht: "Die Fürsten von Jerusalem gleichen räuberischen Wölfen, denn sie vergießen Blut
und stürzen Menschen ins Verderben des niederen Gewinnes wegen" heißt es bei Hesekiel 22,27. Und Jesus
bleibt im Bilde, als er in seiner Bergpredigt vor den falschen Propheten warnt: "Sie kommen zu euch
in Schafskleidern, inwendig aber sind sie reißende Wölfe".
Der "Wolf im Schafspelz" begleitet uns bis heute als geflügeltes Wort.
Daß er in unseren Breiten zum Scheusal schlechthin mutierte, hat mit der Bibel nur indirekt zu tun.
Zur letzten Hatz auf den Wolf trugen zwei besondere Umstände bei. Im frühen Mittelalter begann die
Bevölkerung stark zu wachsen. Die Anbauflächen mußten vergrößert, die Wälder im großen Stil gerodet werden. Außerdem
schickten die Bauern ihr Vieh zum Weiden in die Wälder, wo es sämtliche Baumsämlinge auffraß und
innerhalb kürzester Zeit weite Teile der verbliebenen Wälder vernichtete. Damit verschwand die Heimat von Rehen
und Hirschen, der hauptsächlichen Beute der Wölfe. Also holten sie sich beim Bauern, was sie im Wald
nicht mehr finden konnten: Fleisch. Und da den Hausschafen und anderen wohlbehüteten Hofgenossen der Fluchttrieb
weggezüchtet war und sie bei Gefahr nicht auseinanderstieben wie ihre wilden Vorfahren, sondern sich zusammendrängten
kam und kommt es zu regelrechten Gemetzeln unter den Opfern.
Wenn die Tiere wie blöd beieinanderstehen oder - wie Hühner - nicht aus dem Stall fliehen können, geraten
Wölfe (wie übrigens die meisten Raubtiere) in einem regelrechten Blutrausch.
Vor lauter Töten kommen sie mitunter gar nicht zum Fressen. da kann schon mal eine Herde von 100 Schafen einem nur zehnköpfigen
Rudel Wölfe zum Opfer fallen.
Doch welcher Bauer besaß im Mittelalter schon 100 Schafe? Da reichte es, wenn Wölfe ihm seine einzige
Kuh oder seine paar Ziegen wegfraßen. Die gesamte Familie war dann schlicht vom Hungertod bedroht.
Da nimmt es nicht Wunder, daß der Ruf "Die Wölfe kommen" kaum weniger Schrecken verbreitete als die
Warnung vor Räuberbanden oder marodierenden Soldaten.
Wer hat Angst vorm bösen Wolf?
Daraus entwickelten sich Horrormärchen wie "Rotkäppchen" oder "Die sieben Geißlein" sowie Schreckensberichte
über Wolfsrudel, die in den Weiten Rußlands Menschen in ihren Pferdeschlitten attackierten oder im Winter
Dörfer belagerten und kleine Mädchen gleich im Dutzend fraßen. Die Geschichten ähneln sich meist so sehr
daß da offensichtlich einer vom anderen abgekupfert hat. Auf der Spitze trieb es schließlich die
Mär vom Werwolf, die noch heute schauderlichen Filmstoff liefert. Mit einer wundersamen Salbe eingerieben
sollten Menschen sich in blutrünstige Bestien verwandeln. Einige nahmen das Hirngespinst für bare Münze.
Etwa der Richter Boguet, der zwischen 1598 und 1600 im französischen Jura sein Unwesen trieb und 600
angebliche Werwolf-Menschen zur Reinigung auf den Scheiterhaufen schickte.
Doch irgend etwas muß an den Geschichten stimmen, daß Wölfe Menschen gefressen haben.
Der Wolfsexperte Erik Zimen hält solche Übergriffe in Kriegszeiten, bei Epidemien und Hungersnöten
für denkbar, wenn die Jagd auf Wölfe ausbleibt und sie ihre extreme Scheu verlieren. Doch es gibt
bis heute keinen Beweis, daß ein gesunder Wolf (tollwütige sind ausgenommen) je einen Menschen angefallen
hat.
Sehr wahrscheinlich ist nur, daß Wölfe zurückgelassene Leichen auf dem Schlachtfeld angefressen und
bei Seuchen hastig vergrabene Tiere wieder ausgebuddelt und vertilgt haben. Und das seit mindestens 50 Jahren
kein einziger Mensch auf der Erde durch einen Wolf zu Tode kam - wohl aber Hausschweinattacken, Pferdetritte
oder Zeckenbisse viele Menschenopfer forderten. Doch diese "gefährlichen" Tiere taugen wenig für Horrorgeschichten.
Falsches Idyll
Einige Tierschützer und Wolfsliebhaber scheinen alle Urängste gegen den Räuber aus dem Wald überwunden
zu haben. Sie propagieren den Wolf als das Symbol der perfekten friedlichen Gesellschaft in einer
unberührten Natur. Schließlich kommt es in stabilen Rudeln kaum zu ernsthaften Streitigkeiten. Doch so ein romantisches Idyll
hat auch nichts mit der Realität gemein. Wenn dem Rudelführer, dem Alpha-Wolf, oder der Führerin der Damenriege,
der Alpha-Wölfin, ein Tier den Rang streitig macht, ist es vorbei mit Frieden. Dann fließt schon mal Blut,
besonders bei den verbissen kämpfenden Wölfinnen. Für das unterlegene Tier heißt es dann Abschied nehmen von
der Gemeinschaft - es muß sich fortan als Einzelgänger durchs Leben schlagen.
Völlig beseelt von seiner These, Wölfe seien gar nicht so blutrünstig, führte ein älteres amerikanisches
Ehepaar einen Versuch durch: Es zog Wolfswelpen und ein Lamm in zwei benachbarten Gehegen auf und freute
sich, daß die beiden sich immer neugierig und freundlich am trennenden Zaun beschnüffelten. Als der Tag
kam, daß Jungwolf und Altlamm vor laufender Kamera ihr friedvolles Miteinander beweisen sollten, lief das Lamm im
Spiel davon, der Wolf hinterher. Ein schneller Biß in die Kehle des Opferlammes beendete das Experiment auf
unerwünschte Weise.
Diese Einstellung gegenüber einem Raubtier mag ein wenig blauäugig anmuten. Sie ist für die Zukunft des
Wolfes aber offensichtlich förderlicher als unberührte Lebensräume. So sorgen im fast menschenleeren
Nordskandinavien, wo die grauen Jäger ausgerottet waren, einwandernde Wölfe regelmäßig für Aufregung.
Viele Norweger und Schweden fordern dann den Abschuß der geschützten, aber verhaßten Tiere. In den
italienischen Abruzzen dagegen habe Wölfe nur 100 Kilometer vor den Toren von Rom überlebt, obwohl die
Region teilweise intensiv landschaftlich genutzt wird. Die Bewohner lieben ihre Wölfe zwar nicht
unbedingt, haben sich aber mit ihnen arrangiert.
Die Schäfer schützen ihre Herden mit riesigen Hunden, deren Stachelhalsbänder ins Fleisch eines Angreifers
dringen. Die Wölfe machen tagsüber einen weiten Bogen um Mensch, Hund und Herde. Nachts kommen sie jedoch
in die Nähe der Dörfer, um sich auf den Müllkippen den Bauch vollzuschlagen - was ihnen den wenig
schmeichelnden Namen "Spaghetti-Wölfe" einbrachte.
Den Wölfen mag es egal sein, schließlich haben sie überlebt.
(Quelle: Wunder der Natur, Ausgabe 10-11/99)
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