Die meisten Menschen, die in die entlegenen Rückzugsgebiete der letzten Wölfe vordringen, bekommen die scheuen, geheimnisvollen Tiere gar nicht er zu Gesicht. Sie hören höchstens von fern ihren klagenden Gesang. Wölfe heulen zwar nicht den Mond an, doch das Pfeifen eines vorbeifahrenden Zuges, der Ruf eines Eistauchers oder das weit entfernte Brummen einer Kettensäge können sie durchaus zum Heulen animieren. Meist heult ein Wolfsrudel jedoch vor Glück oder in nervöser Erwartung, fällt in den Gesang eines Mitgliedes ein, das eine frisch gerissene Beute feiert, antwortet den Rufen eines verirrten Tieres oder reagiert auf das drohende Heulen eines fremden Rudels, das in der Nähe umherstreift. Jedes Rudel hat seinen eigenen, unverwechselbaren Gesang, wobei die einzelnen Wölfe miteinander harmonisieren wie die Mitglieder eines schwermütigen Gesangvereins. Das seltsame langgezogene Jaulen dauert meist zwischen ein bis fünf Minuten und ist in stillen Nächten in der baumlosen arktischen Tundra oft über eine Entfernung von bis zu 250 Quadratkilometern zu hören. Das Heulen mag zwar die bekannteste Lautäußerung des Wolfes sein, spielt im Kommunikationssystem der Tiere jedoch wahrscheinlich keine sehr wichtige Rolle. Wie die meisten Raubtiere lebt der Wolf nämlich in einer Welt, die hauptsächlich von Gerüchen geprägt ist. Die zwanghaften Duftmarkierungen verbinden die Rudelmitglieder durch den Geruchssinn miteinander.
Wölfe verspritzen ihren Urin auf Baumstümpfe, Felsen, Beuteplätze und markieren mit ihren Duftdrüsen Baumstämme, gerissene Beutetiere und andere Rudelmitglieder. Genau diese Gerüche veranlassen Eindringlinge normalerweise sofort, sich schleunigst zurückzuziehen.
Die Hierachie innerhalb eines Rudels wird nicht durch geruchsbedingte Signale vermittelt, sondern auch durch Körperhaltung und Mienenspiel. Welpen lernen schon sehr früh, daß Unterwerfung durch eine ganz bestimmte Demutshaltung ausgedrückt wird. Dabei hält das Tier den Kopf gesenkt, die Augen abgewandt, die Ohren flach angelegt und das Maul geschlossen. Im Gegensatz dazu bedeuten Zähnefletschen, Fixieren des Gegners, Aufstellen der Ohren und Sträuben der Nackenhaare, daß Vorsicht geboten ist oder sogar ein Kampf bevorsteht. In der Gemeinschaft der Wölfe sind Mienenspiel, Körpersprache und Duftmarkierungen ritualisiert. Sie werden von allen verstanden und dienen dem Zusammenhalt des Rudels.
Dieser Zusammenhalt wird in den späten Wintermonaten mit Beginn der Ranzzeit jedes Jahr erneut auf eine harte Probe gestellt. Wenn die dominante Wölfin des Rudels, in der Fachsprache des "Alpha-Weibchen" genannt, läufig wird, sind Kämpfe an der Tagesordnung. Die männlichen Tiere, allen voran das dominante Alpha-Männchen, beschnüffeln, verfolgen und bedrängen die läufige Wölfin, in der Hoffnung, erhört zu werden.
Die Alpha-Wölfin muß währenddessen ihre Autorität in der Gruppe durch Kämpfe mit rangniedrigen Wölfinnen behaupten. Es herrschen rauhe Sitten, Knurren und Heulen nehmer immer mehr zu. Wenn die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, entschließt sich das dominante Paar in den meisten Fällen, seine lange Partnerschaft erneut zu besiegeln und sich zu paaren. Entgegen der weitverbreiteten Meinung sind Wölfe nicht unbedingt monogam. Sie wechseln gelegentlich den Partner, wenn auch nicht sehr häufig. In den meisten Rudeln, mit Ausnahme sehr großer Gruppen von 15 bis 20 Tieren, paaren sich die übrigen ausgewachsenen Tiere nicht und verbleiben ohne Nachkommen.
Etwa 63 Tage nach der Befruchtung (die Tragzeit entspricht der des Hundes) werden die Welpen in einem unterirdischen Bau geworfen. In Texas ist es im Februar oder März soweit, in der arktischen Tundra oft erst im Juni. Während der ersten zwei Wochen sind die Jungen blind. Sie leben im Dunkeln und tun nichts anderes als saugen und schlafen. Nach etwa drei Wochen werden die Welpen von der Mutter mit der Schnauze durch den Tunnel nach draußen getragen, um die Welt kennenzulernen. Jetzt beginnt eine neue Lebensphase außerhalb der Höhle. Feste Nahrung, die aus halbverdauten, ausgewürgten Fleischbrocken besteht, gehört mit zur Initiation der Welpen. Ältere Jungtiere helfen den Eltern. Sie passen auf die Kleinen auf, bringen Futter und dienen den einzigen Nachkömmlingen des Rudels als Spielgefährten und Klettergerüst. Während die Welpen heranwachsen, werden sie immer weiter vom Bau weggeführt.
Sie lernen die Pfade, Gerüche und potentiellen Beutetiere kennen und werden in die Jagdtechniken des Rudels eingeweiht. Schon bald verstehen sie das warnende Knurren und Zähnefletschen der Erwachsenen. Wissenschafter haben beobachtet, wie ausgewachsene Wölfe zu jagen begannen und sich dann abrupt zurückzogen, um den Jungtieren das Feld zu überlassen und zu beobachten, wie geschickt sie das Beutetier einkreisten und wie gut sie seine Schwächen einschätzten. Im Oktober sind die Welpen fast ausgewachsen und vollständig in das Rudelleben integriert. Einige bleiben ihr Leben lang im Rudel. Wölfe haben eine Lebenserwartung von etwa neun Jahren. Andere sondern sich nach ein oder zwei Jahren ab und werden zu "einsamen Wölfen", die oft auf der Suche nach einem geeigneten Gefährten weite Strecken zurücklegen. Während dieser Zeit führen sie ein gefährliches Leben, denn als Eindringlinge können sie leicht von alteingesessenen Rudeln angegriffen oder sogar getötet werden. Wenn der einsame Wolf Glück hat, trifft er auf einen zweiten Wolf, der ebenfalls auf der Suche nach einem Partner in der Nähe umherstreift und versucht, sich vor fremden Rudeln zu schützen. Allmählich nehmen die Bestände in einigen Gebieten wieder zu, weil einsame Wölfe, die einen Partner gefunden haben, ihre eigene Rudel gründen.

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