Als gelbäugiges, erbarmungsloses, blutrünstiges Schattenwesen umkreist der Wolf die Welt des Menschen, haust in den Kieferwäldern des Feuerscheins und geistert als dunkle Macht durch uralte Mythen. Es ist kaum verwunderlich, daß der Mensch seit Jahrtausenden eine Art Haßliebe zu diesem Raubtier hegt, denn der Wolf hat mit ihm nicht nur dasselbe Territorium geteilt, er ist ihm in vielen Punkten auch recht ähnlich. Mit Ausnahme seines Todfeindes, des Homos sapiens ist der Grauwolf (Canis lupus) das Säugetier mit dem größten Verbreitungsgebiet. Schon vor 12.000 Jahren erkannten unsere Vorfahren im Nahen Osten sein ausgepräges Sozialverhalten und begannen ihn zu domestieren, und machten ihn damit zum Urahn aller 120 heutigen Hunderassen. Die Ergebenheit des Wolfes seinem Rudelführer gegenüber, seine zärtliche Fürsorge bei der Aufzucht der Jungen, seine geschickte Jagdtechnik, sein poetisches Heulen, selbst seine blutrünstige Natur - manchmal tötet er nur um des Tötens willen - erscheinen wie ein Spiegelbild der primitiven Seiten des Menschen. Deshalb bevölkert der Wolf auch wohl so viele Märchen und Mythen der nördlichen Hemisphäre. Überall ist Canis lupus zu finden: auf 20000 Jahre alten Höhlenzeichnungen in Südeuropa, in Berichten mesopotamischer Bauern, die vor 7000 Jahren verfaßt wurden, in der Dämologie des frühen Christentums, in mittelalterlichen Geschichten von Werwölfen und in Schauermärchen wie "Rotkäppchen" oder "Der Wolf und die sieben Geißlein". Im Laufe der Zeit verfestigte sich sein fataler, jedoch völlig unverdienter Ruf als Inkarnation des Bösen immer mehr. Diese Fehleinschätzung ist größtenteils das Werk bäuerlicher Kreise in Europa, die nach einer Rechtfertigung für die Vernichtung eines Raubtieres suchten, das gelegentlich Appetit auf ihre Haustiere verspürte. In Nordamerika, wo die indianischen Jäger und Sammler keine domestizierten Vieh-, Ziegen- oder Schafherden kannten, wurde der Wolf geachtet und sogar verehrt. Er galt als stark und weise, als geborener Jäger, sogar als Lehrer, dessen Jagdtechniken der Mensch nachahmen und erfolgreich gegen Büffel und Karibus einsetzen konnte. Doch mit der Ankunft der europäischen Siedler im 17. Jahrhundert begann auch in Amerika die Ausrottung des Wolfes. Die Tatsache, daß der Wolf im Laufe der letzten 300 Jahre sowohl in Europa als auch in fast allen amerikanischen Bundesstaaten gänzlich ausgerottet wurde, ist auf die Macht der bäuerlichen Gemeinschaften zurückzuführen, die immer wieder neue Mythen und Gesetze erfanden gegen die imaginäre Bedrohung durch den "Großen bösen Wolf", der an der Haustür klopft und nur darauf wartet, sämtliche Bewohner mit Haut und Haaren zu verschlingen. Tatsache ist, daß kein anderes Tier auf so unverdiente Art dämonisiert und so gründlich mißverstanden wurde wie der Wolf. Nur wenige Säugetiere weisen ein so hochentwickeltes Sozialverhalten auf und sind ihrer Gruppe so treu ergeben wie der Wolf. Im Gegensatz zum Kojoten und Fuchs lebt der Wolf einzig und allein für sein Rudel. Der berühmte "einsame" Wolf ist die seltene Ausnahme. Meist handelt es sich dabei um schwache Tiere, Außenseiter oder Ausgestoßene. Ein solcher Einzelgänger muß manchmal zwischen zehn und 1000 Kilometer zurücklegen und vorsichtig die Territorien fremder Rudel durchqueren, bis er endlich eine Gefährtin findet, mit der er sein eigenes Rudel gründen kann. Doch für die meisten Wölfe beginnt und endet das Leben in einer festen sozialen Gruppe, einem Rudel von acht bis 15 Tieren. Die Rangordnung ist allen Mitgliedern bekannt und wird immer wieder durch kleine Gefälligkeiten, Rituale, Zurechtweisungen und Kämpfe aufrechterhalten. Rudelführer sind das sogenannte Alpha-Männchen und das Alpha-Weibchen. Die übrigen, rangniedrigen Mitglieder sind meist direkte Nachkommen des Alpha-Paares, so daß das Rudel im Grunde aus einer einzigen großen Familie besteht. Einige rangniedrigere Wölfe helfen bei der Fütterung und Aufzucht der Welpen, die jedes Jahr im Frühling geworfen werden. Gejagt wird meistens gemeinsam. Die Rudelmitglieder pflegen engen Körperkontakt, ruhen zusammen aus und heulen oft auch gemeinsam. Ihren Anführern demonstrieren sie jeden Tag aufs neue mit ritualiserten Verhaltensweisen ihre Ergebenheit. Die Fähigkeit zu einem komplexen Zusammenleben innerhalb einer Gruppe unterscheidet den Wolf von den meisten anderen nordamerikanischen Tieren. Rangniedrigere jüngere Wölfe verneigen sich buchstäblich vor den Alpha-Tieren und demonstrieren so ihre Unterwürfigkeit. Im Gegensatz zu den dominanten Rudelführern, die mit erhobenem Bein urinieren, nehmen viele rangniedrigere Wölfe eine Hockstellung ein, um die Verteilung ihrer Duftmarkierungen möglichst gering zu halten. Bei den meisten Rudeln fungiert regelmäßig ein schwächeres Tier als "Babysitter", hilft bei der Beaufsichtigung der Welpen und bleibt häufig hungrig zurück, während die Alpha-Eltern gemeinsam jagen. Beim Angriff auf große Beutetiere wenden Wölfe eine Vielzahl von Gruppenstrategien an. Sie werden von den Alpha-Tieren eingeleitet, die durch Lautäußerungen, Mienenspiel und Körpersprache ständig mit den anderen Rudelmitgliedern kommunizieren. Eine andere Aufgabe des Rudels besteht darin, das Territorium gegen fremde Eindringliche zu schützen. Die Grenzen werden streng bewacht und durch regelmäßige Markierungsrituale alle 100 bis 200 Meter im Umkreis des Gebietes immer wieder gesichert. Die Größe eines Territoriums, normalerweise etwa 400 Quadratkilometer, hängt von der Dichte der Beutetierpopulation ab. Die Wölfe innerhalb dieses Gebietes betrachten das dortige Wild als ihre Beute. Fremde Wölfe, die in das Revier eindringen, werden angegriffen und gelegentlich sogar getötet.






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