EINSAMER WOLF

Das Bild vom Wolf im Schafspelz stimmt nicht,
wie das Beispiel eines Einzelgängers in Deutschland beweist.



Wölfe? Hier? Nein in dieser Gegend gibt es bestimmt keine." Entschieden schüttelte die Römerin den Kopf, als der Journalist Thomas McNamee sie nach dem Tier fragt, das einst Romulus und Remus mit Milch versorgt hat.

In Wahrheit leben nur eine halbe Busstunde von Italiens Hauptstgadt entfernt große Wolfsrudel. Vermutlich hatte die Einheimische bei der Frage an Tod und Verderben gedacht, doch die Wölfe sind so scheu, dass sie praktisch unbemerkt bleiben. Dafür vermehren sie sich umso besser und dringen weiter und weiter über die italienische Grenze nach Norden vor. Richtung Mitteleuropa bewegen sich also nicht nur die osteuropäischen Wölfe, sondern via Schweiz auch die italienischen.

Immer realer wird die Frage: "Wie wird es sein, wenn auch hierzulande ganz normal Wölfe leben, die ein Spaziergänger ohne weiteres einmal auf einer Lichtung im Wald sehen kann?" Diese Frage ist gut zu beantworten, denn es gab bereits einmal einen Wolf, der etwa in Deutschland wild lebte und immer wieder beobachtet wurde.

Der Wolfsforscher Erik Zimen war Mitglied eines Wolfsrudels, das in einem Gehege im Bayrischen Wald lebte. Die Wölfe akzeptierten ihn und er hatte sie unter Kontrolle. Er ging sogar außerhalb des Geheges mit ihnen spazieren. Eines Tages war er mit einem jungen und einem älteren Wolf unterwegs und lief einen Moment lang achtlos voran. Da bemerkte er, daß der ältere Vierbeiner nicht mitgekommen war. Dies war der Beginn der Solo-Karriere von Näschen, wie der verschwundene Wolf hieß. Nun hatte Deutschland seinen wild lebenden Isegrimm. Am wenigstens darüber freuen würde sich wohl der Wolf selber, so mutmaßte man. Würde er ohne sein Rudel auskommen?

Aus der Wildnis sind viele erstaunliche Berichte über den Zusammenhalt und die gegenseitige Hilfe von Wölfen zu hören. So war ein junger Wolf in eine Falle getreten, die an Felsen befestigt war. Tiere aus dem Rudel haben daraufhin mit gewaltigen Anstrengungen gebuddelt und gezerrt, bis sie das Fangeisen unter dem Felsen freibekamen.

Wegen dieser Verbundenheit hoffte Erik Zimen, dass der Freigänger zum Gehege zurückkehren würde. Der Forscher stimmte dort mit den anderen Wölfen einen Heulchor an, um Näschen zurückzulocken - vergeblich. Der einsame Wolf begann tatsächlich wild herumzuziehen.

Wie wollte er in Deutschland überleben? Erik Zimen fand Spuren. Näschen war mutig in die Freiheit gestartet und gleich einem Hirsch nachgejagt. Aber der war für den alleine jagenden Wolf wohl ein wenig zu groß.

Trotzdem kam der unternehmungslustige Vierbeiner nicht hungrig zum Gehege zurück. Gleichzeitig wurde er zum Liebling der Bevölkerung. So selten er sich auch zeigte, so viele Sympathien wurden dem Überlebenskämpfer doch zuteil. Und wenn tatsächlich einmal schlechte Nachrichten über ihn verbreitet wurden, so stellte sich diese häufig als unwahr heraus. In einem Fall sollte er bei einem Hof Hühner gejagt haben. Nachfragen ergaben, dass irgendein Tier über einen Feldweg gelaufen war und dabei einen Schwarm Tauben aufgescheucht hatte.

Obwohl Näschen mit Menschen vertraut war, wurde er in Freiheit immer scheuer. Das Einzige, was Erik Zimen von ihm entdecken konnte, waren seine Ausscheidungen. Die zeigten immerhin, wovon er eigentlich lebte. Er war weitgehend Vegetarier geworden.Blaubeeren und Obst waren seine Hauptspeise, doch er hatte auch die Innereien gefunden, die während der Jagdzeit nach dem Ausweiden des Wildes im Wald lagen.

Nach vier Monaten und zehn Tagen war er doch wieder am Gehege zurück. Er war in guter Verfassung und sah keineswegs ausgezehrt aus. Doch das Erste, was er tat, war ungeheure Mengen von Fleisch zu fressen.

(Kleine Zeitung vom 05.12.1999)

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