PROJEKT INNSBRUCKER ALPENZOO




Drei Wolfskinder und eine junge Frau
als "menschliche Leitwölfin"

Ein Märchen? Nein, hier ist die Rede von einem aufsehenerregenden zoologischen Projekt, das diesen scheuen und sensiblen Tieren ein behutsames Eingewöhnen in ihre neue Tiroler Heimat ermöglicht.

Wolfskind und Menschenfrau, Pascale Jüch + Jaskov Sieben Uhr früh, heilige Besucherstille im Alpenzoo von Innsbruck. Eine Dohle hockt vor der Voliere ihrer Zoogenossen und läßt sich die Morgensonne aufs Gefieder scheinen. Mag. Pascale Jüch, Zoologin aus Luxemburg, sperrt die Tür zum Wolfsgehege auf. Ehe sie noch den Schlüssel abgezogen hat, ist sie schon von ihren Grauwölfen umringt. Eine stürmische Begrüßung. Pascale: "Die Jungs sind immer besonders wild"!

Die Jungs sind Tristan, der Ausgeglichene, und Jaskov der Draufgänger, den Pascale auch liebevoll den Clown oder Macho nennt. Über Shiva, das Wolfsmädchen sagt Pascale: "Sie ist extrem scheu, aber auch sehr zärtlich und anschmiegsam. Am glücklichsten ist sie, wenn wir alleine sind, ohne andere Menschen in der Nähe."

Am Tag des Interviews ist Shiva nicht glücklich. Fotograf Michael Leischner und ich bereiten der Wölfin sichtlich Unbehagen. Shiva bleibt scheu im Hintergrund und man spürt förmlich, dass sie darauf wartet, bis wir endlich wieder ihr Territorium räumen. Pascale tröstet Shiva mit einer Extraration Futter und zusätzlichen Streicheleinheiten. "Shiva wird immer sehr scheu bleiben. Die Zoobesucher werden sie nicht viel zu Gesicht bekommen."

Tristan hingegen nimmt unseren Besuch im Gehege völlig gelassen auf. Und Jaskov schließt bereits in der ersten halben Stunde Freundschaft mit Michael Leischner. Der Fotograf neckt und krault Jaskov. Jaskov schleppt sein Spielzeug an (Gummihendl und Plüschtier!) und schleckt Michael begeistert das Gesicht ab.

Bis vor ein paar Tagen noch hat Pascale mit ihren Schützlingen im Wolfshaus geschlafen. Jetzt zieht sie sich langsam zurück. Es ist ein für beide Seiten trauriger, aber notwendiger Abnabelungsprozeß. Jeden Morgen warten die Wölfe bereits in der Dämmerung auf Pascale. Und jede Nacht wird Pascale ein paarmal wach und muß sich beherrschen, nicht gleich zu ihren Wölfen zu laufen.

Dr. Martys ist verantwortlich für das Wolfsprojekt Die Wolfskinder sind vierzehn Wochen alt. Sie wurden im deutschen Tierpark Lohberg geboren, kamen mit zwei Wochen in die Obhut von Pascale Jüch und mit zehn Wochen in den Alpenzoo nach Innsbruck. Zoodirekter Dr. Michael Martys: "Nachdem der letzte Mohikaner unseres Wolfsrudels an Altersschwäche gestorben war, haben wir das Gehege um das Doppelte vergrößert. Und ich habe dieses Projekt ausgearbeitet, das den jungen Wölfen ein angstfreies Eingewöhnen bei uns ermöglichen soll. Natürlich könnte man einfach Wolfswelpen aus einem Zoo holen und hier ins Gehege setzen. Aber Wölfe sind sehr sensibel, sie leiden unter einen neuen Umgebung. Deshalb haben unsere Jungwölfe Pascale als Vertrauensperson. Sie gibt ihnen Sicherheit. Frau Jüch hat letztes Jahr als Praktikantin bei uns gearbeitet, mit ihr habe ich das Wolfsprojekt konkretisiert."

Dr. Martys ist Konrad-Lorenz-Schüler, leitete acht Jahre lang die Forschungsstation in Grünau im Almtal und ist seit 1992 Direktor des Alpenzoos. Er bezeichnet den Wolf als scheu und sensibel, diesen Wolf, den die Menschen durch die Jahrhunderte verteufelt, verleumdet und in weiten Teilen Europas ausgerottet haben. Man ließ kein gutes graues Haar an Meister Isegrimm: hinterhältige Bestie, Menschenfresser, Werwolf, Wolf im Schafspelz. Dr. Martys: "Die innige Beziehung zwischen Pascale und den Wölfen soll aber nicht zu der irrigen Annahme verleiten, Wölfe seien Kuscheltiere. Auch wenn der Wolf der Ahnherr des Hundes ist - Wolf bleibt Wolf!"

Pascale und die Wölfe - tiefe Beziehung zwischen Mensch und Tier Pascale schneidet Futter für ihr Rudel: "Jetzt füttere ich meine Jungs und das Mädchen nur noch zweimal am Tag. Als sie mit zwei Wochen zu mir kamen, mußte ich sie rund um die Uhr mit Welpenmilch aus der Flasche versorgen. Dazu massieren, streicheln und für die Verdauung die Analregion mit einem feuchten Tuch stimulieren. Anfangs hatte ich Angst, etwas falsch zu machen. Aber es hat alles wunderbar geklappt." Und wenn ein Wölfchen besonders ängstlich war, hat Frau Jüch es einfach zu sich ins Bett genommen." Dr. Martys: "Pascale und ich waren gemeinsam im Tierpark Lohberg, um die drei Welpen aus dem Wurf auszusuchen. Mir war es wichtig, die Wölfe zum richtigen Zeitpunkt zu holen. Keinesfalls wollte ich Tiere, die auf den Menschen geprägt sind, die in ihm, wie Konrad Lorenz sagt, einen Sozialkumpanen sehen. Ich habe deshalb mit Prof. Dr. Erik Zimen, dem deutschen Wolfsexperten zusammengearbeitet. Pascale hat auch in den ersten Wochen mit den Wölfen auf dem Zimen-Gelände bei Passau gelebt, in einem Wohnwagen mit Zelt und Freigehege."

Was sehen die Wolfskinder in Pascale? "Ich bin für sie eine der ihren. Unter Anführungszeichen gesagt, eine "menschliche Leitwölfin". Würde ich weiterhin mit ihnen leben, müßte ich mich späteren Rangordnungskämpfen stellen. Wehe, ich unterliege da. Der Mensch muß immer Alphatier bleiben. Derzeit sind die Kampfspiele noch Spiele, aber sie werden immer härter. Wenn es wirklich ernst wird, bin ich nicht mehr hier. Das Projekt im Alpenzoo ist im September abgeschlossen. Ich gehe an die Uni zurück und schreibe meine Doktorarbeit."

So richtig möchte Pascale jedenfalls nicht an den Abschied denken. "Meine Wölfe werden mich immer kennen, selbst wenn es fünf Jahre dauern sollte, bis ich wiederkommen kann. Unsere Beziehung ist sehr tief."

Pascale JüchPascale balgt mit Tristan und Jaskov auf dem Boden. Es geht nicht gerade zimperlich dabei zu. Pascales Sweater hat lauter kleine Bißlöcher, ihre Arme sind zerkratzt und selbst am Ohrläppchen hat Jaskovs wilde Zuneigung ihre Spuren hinterlassen. Dennoch: ein deutliches, nicht mal lautes "Nein!" - und die Wölfe lassen von Pascale ab: "Das habe ich ihnen von Anfang an beigebracht!"

Frauen und Wölfe, diese Geschichte wurde in ihrer vollen historischen Bedeutung für die Menschheit von Dr. Zimen entschlüsselt. Der Wolf ist der Stammvater des Hundes. Dr. Martys: "Immer wieder werden Wolf und Hund gekreuzt. Man erhofft sich dadurch einen Superhund. Aber das Gegenteil ist der Fall. Dominant vererbt werden nur die schlechten Eigenschaften: hohe Aggression, große Ängstlichkeit, geringer Gehorsam".

Bleiben wir also bei den Wölfen und bei Pascale, die ihren kleinen Isegrimms das Heulen beibringt. "Abends wenn die Zoobesucher weg sind, üben wir Heulen. Es klingt noch eher kläglich!"

Wolfsgeheul in Innsbruck. Und eine junge hübsche Wissenschafterin, die ihren Wölfen etwas vorheult. Diese Wolfsgeschichte ist viel besser als Rotkäppchen - echt zum Heulen schön.

(Autor: Katharina Messner, Quelle: Kronenzeitung v. 22.8.1999)

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