Rückkehr der Wölfe in die Alpen


Der Wolf, lange als menschenfressende Bestie verschrien, strebt in die Alpen zurück. Wildbiologen erwarten ihn bald auch in Österreich. Naturschützer werben bereits um Verständnis für das scheue und hochintelligente Rudeltier.


Potentielle und reale Wolfspopulation in Europa In der Nacht sind Hund und Wölfe grau. Deshalb wird wohl auch im dunkeln bleiben, welches Tier die aufgeregte Autofahrerin aus dem niederösterreichischen Waldviertel wirklich herumstreunen gesehen hat: Isegrim, der Fabelname des Wolfes, höchstpersönlich oder bloß einen Artgenossen von Rex? Die Lenkerin, die Anfang Juni umgehend der "Kronen Zeitung" Bericht erstattete, schwor jedenfalls Stein und Bein, ihr sei in der Dämmerung ein waschechter Wolf über den Weg gelaufen.

Mag durchaus sein: Auch Zoologen, Jäger, Landwirte und Naturschützer erwarten jetzt die Rückkehr der grauen Raubtiere nach Österreich. Und die Überlebenschancen für die vor mehr als hundert Jahren mit Fallen, Flinten und Giften ausgerotteten Wölfe stehen diesmal gut. Der einstmals pauschal als "böser Wolf" verunglimpfte Stammvater der Haushunde hat in den vergangenen Jahren einiges an Image gewonnen. Zumindest für Stadtbewohner, das hat eine Schweizer Studie ergeben, sind die Tiere neuerdings keine Bedrohung für Leib und Leben mehr, sondern ein Symbol für ungebändigte Natur, Kraft, Dynamik, Mut und Instinkt. Moderne Erkenntnisse über die soziale Intelligenz der Tiere unterstützen dieses wildromantische Wolfsbild. Zoologen wissen längst, daß in Wolfsrudeln nicht die blanke Diktatur des Leitwolfs herrscht: Die Alphatiere herrschen wie aufgeklärte Despoten über ihre Untertanen; zwar autoritär, aber immer auf die Unterstützung ihrer Mitläufer angewiesen. Auch das Alphapärchen in Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" tut besser daran, den kleinen Mowgli zunächst den Mitwölfen vorzustellen, bevor er aufgenommen wird.

AUFBRUCH IN DIE ALPEN Für den deutschen Tierpfleger Werner Freund, der seit mehr als 23 Jahren in Wolfsrudeln lebt, sind die Tiere sogar, wie er in seinem jüngsten Buch "Wolf unter Wölfen" schreibt, "Lehrmeister,die mich erst so richtig zum Menschen haben werden lassen". Auf Basis solcher Er- und Bekenntnisse bereitet nun auch der WWF Österreich das Land auf Isegrimms Ankunft vor: Eine kürzlich erschiene Broschüre der Naturschützer trägt den Titel "Der Wolf - Rückkehr eines Mythos".
Aber warum zieht es den Wolf plötzlich wieder in den Ostalpenraum? Auslöser für die Wanderungen sind die wachsenden Wolfspopulationen in Europa: Seit wenigen Jahren stehen die Tiere etwa in Kroatien unter Naturschutz. Auch in den italienischen Abruzzen haben sich die Bestände seit den siebziger Jahren erholt. "Wenn es in den Revieren zu eng wird, machen sie sich auf die Suche nach neuen Lebensräumen", berichtet Norbert Gerstl vom WWF Österreich. Die Einwanderung erfolgt in Generationen gestaffelt. "Zuerst kommen die jungen Männchen", beschreibt Friederike Spitzenberger, Leiterin der Säugetiersammlung im Wiener Naturhistorischen Museum, die Vorboten der bevorstehenden Raubtierinvasion, "später kommen die älteren Tiere, dann entstehen die ersten Rudel." So verliefen auch die Wanderungen seit 1985, die mittelitalienischen Wölfe über die französischen Alpen und das Piemont bis ins schweizerische Tessin führten.

Seit bei den Eidgenossen erste Exemplare des Canis Lupus auftauchten, gibt es kein österreichisches Nachbarland mehr ohne Wölfe. Im Osten Deutschlands sind es derzeit fünf Exemplare, in der Tschechischen Republik und in Slowenien könnten es jeweils 10 sein, in Ungarn 30 und in Italien gar bis zu 1000. Langfristig überlebensfähige Wolfspopulationen sind das meist jedoch noch nicht, erst ab etwa fünfzig Tieren ist der Bestand über Generationen gesichert. Dabei schiebt das Sozialverhalten der Wölfe ihrer Ausrottung durch Abschüsse einen Riegel vor: In geordneten Rudelverhältnissen werfen nämlich nur die Alphaweibchen Welpen. Wird diese Struktur durch Abschüsse zerstört, pflanzen sich auch die rangniederen Weibchen fort. Der US-Biologe David Mech hat herausgefunden, daß Populationen selbst dann noch wachsen, wenn pro Jahr ein Viertel des Bestandes getötet wird.

Wolfsrevier Österreich Mit Hilfe von Satellitendaten haben italienische Wissenschafter herausgefunden, wo in Mitteleuropa Wölfe seßhaft werden könnten. Berücksichtigt wurden Faktoren wie Bewaldung, Aufkommen von potentiellen Beutetieren und Besiedelungsdichte. Das Resultat der Studie: Fast ein Drittel Österreichs würde sich als Jagdrevier für Wölfe eignen. "Wenn ich mir die Landschaften bei uns anschaue, dann müssen die geradezu wie ein Magnet auf die Tiere wirken", glaubt auch Tierschützer Norbert Gerstl.

In der Tat: Die extrem dünn besiedelten Alpen mit ihrem üppigen Wildbestand sind ideale Jagdgründe. Das Revier eines Wolfsrudels ist bis zu tausend Quadratkilometer groß, auf dieser Fläche unternehmen die Raubtiere Beutezüge, die sie mehr als zwanzig Kilometer pro Nacht zurücklegen lassen. In solchen Landstrichen leben in Mitteleuropa bis zu 15.000 Rehe. Eine handstreichartige Landnahme der Wölfe wird dennoch nicht stattfinden. "Die eigentlichen Grenzen für die Ausbreitung der Wölfe sind die Grenzen der Toleranz bei den Menschen", weiß Wolf Schröder, Leiter des Institus für Wildbiologie in München.
Kaum ein Tier wurde seit Menschengedenken so widersprüchlich gedeutet wie der Wolf. Es war zwar eine Wölfin, die Romulus und Remus, später die Gründer von Rom, zur Brust nahm und aufzog. Doch zumeist wurden die Wölfe dämonisiert. In seiner Bergpredigt warnte Jesus: Die falschen Propheten würden in Schafskleidern kommen, doch in Wahrheit seien sie reißende Wölfe. Der Messias wußte, was die als Hirten lebenden Israeliten von den Räubern hielten: ungefähr ebensoviel wie die heutigen Schafzuchtverbände.

1300 Jahre später, im Hundertjährigen Krieg, zogen ausgehungerte Wölfe durch Frankreich, buddelten Menschenleichen aus und fraßen sie, weil die Wälder wegen der Hungersnot längst leergejagt waren. Damit legten sie die Grundstein für ihren Ruf als menschenfressende Monster. Der Aberglaube machte aus den Aasfressern der Kriegsjahre Werwölfe, die angeblich in menschlicher und tierischer Gestalt satanisches Unheil über die Menschheit bringen würden. Hunderte "Werwölfe" wurden öffentlich verbrannt. Der Wolf war endgültig gefangen - in seiner Rolle als Inkarnation des Bösen. Als heimtückische Monster gelten sie noch im französischen Mercantour, wo Landwirte und Biologen sich wegen eines Artenschutzprojektes für Wölfe bekriegen. Die Wölfe, tobte ein Vertreter der örtlichen Landwirtschaftskammer, seien "faschistisch organisierte" Horden.

Überleben durch Scheu Alles Humbug, findet Wildbiologe Schröder. "Die Tiere", widerlegt er das Märchen vom bösen Wolf, der es auf die Rotkäppchen dieser Welt abgesehen hat, "sind extrem scheu und meiden den Menschen. Über Jahrhunderte ist jeder Wolf, der sich an Menschen herangewagt hat, umgebracht worden". Das heißt, frei nach Darwin: Nur die Vorsichtigsten konnten überleben und vererbten ihre Scheu den Nachkommen. Peter Lebersorger, Geschäftsführer der österreichischen Jagdverbände, wünscht den Raubtieren noch mehr Scheu. "Sollten tatsächlich welche kommen, wünsch ich ihnen, daß sie lange nicht bemerkt werden. Nur dann geht es ihnen wirklich gut. Wir Jäger werden ihnen sicher nichts tun."

Weniger friedfertig reagieren naturgemäß die Schafzüchter. "Wir sind erbitterte Feinde des Wolfes", bekennt Johannes Fitsch, Geschäftsführer des Tiroler Schafzüchterverbandes, "und zwar nur wegen des Schadens, den er hier anrichten würde".
"Solange ein Wolf die dummen Schafe kriegen kann, wird er sich nicht bei der Jagd nach Rehen oder Gemsen verausgaben", erklärt Friederike Spitzenberger vom Naturhistorischen Museum. Ihr Lösungsvorschlag: "Die Züchter müssen wieder ihre alten Künste als Schafhirten ausgraben - das hat jahrhundertelang funktioniert." Für Schafzüchter Fitsch ist das aber ein ungangbarer Weg: "Da bräuchten wir allein in Tirol rund 150 Vollzeitschäfer, und die kann sich keiner leisten." Überlegt werden deshalb Modelle, wie die Schäfer entschädigt werden könnten - finanziert aus EU-Geldern für Naturschutz oder aus den Haftpflichtversicherungen der Jäger.

Vorbild Bär Für Schäden, die von den in Österreich ansässig gewordenen Bären verursacht werden, gibt es bereits einschlägige Polizzen. Das Experiment mit den mittlerweile dreißig einheimischen Braunbären könnte überhaupt als Vorbild für das Management österreichischer Wölfe dienen. Noch vor fünf Jahren wurde ein Männchen namens Nurmi in sogenannter Notwehr erschossen, heute gilt die Ansiedlung als wildbiologischer Erfolg. Und die Nation macht sich Sorgen um das Schicksal der Eltern des allein im Wald aufgefundenen Bärenbabys Stoffi, das im Schönbrunner Zoo aufgepäppelt wird. Die Existenz heimischer Wölfe wäre demnach spätestens mit der Umkehrung des "Dschungelbuchs" gesichert: Ein verwaistes Wolfsjunges muß her - um von Österreichern aufgezogen zu werden. *)

(Gottfried Derka, Klaus Kamolz - Format 24/99)

*) Anmerkung des Webmasters: Würde mich sofort zur Verfügung stellen.........

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